Margrit Lurz: „spurengehen“

Margrit Lurz: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „spurengehen“, IMG München, 2003

„Ich bin kein Theoretiker, sondern ich suche nach einer Wirklichkeit. Eigentlich meine ich, das, was ich mache geht über die Theorie hinaus und ist ein Suchen einfach nach der wirklichen Gestalt der Dinge.“
Josef Beuys, 1969

„Spurengehen“, der Titel zu unseren heutigen Ausstellungseröffnung lässt erahnen, wie schwierig und zugleich spannend es ist, die seelisch-geistige Existenz eines Menschen zu erfassen, seiner Identität nachzuspüren oder eben nur bloße Abbildung der äußeren Erscheinung wiederzugeben.

Jutta Nase , Beuys-Schülerin und Meisterschülerin der Hochschule der Künste in Berlin, lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Berlin. Nach einer Zeit persönlicher Spurensuche nach der eigenen Identität hatte Frau Nase Ende des letzten Jahres ein besonderes Erlebnis. Bei Besuchen des Staatlichen Museums Berlin faszinierten sie Bildnisse von Künstlern wie L. Cranach, A. Kauffmann, E. Vigée-Lebrun, Velázquez. Die Arbeiten ließen ihr keine Ruhe, irritierten sie und kamen ihr sehr nahe. Nach längerer und wiederholten Betrachtung büßten die Arbeiten nichts von ihrer Unmittelbarkeit ein, und so begann Frau Nase sich mit den Gemälden und ihren Schöpfern in ein Gespräch einzulassen.

Schon in früheren Jahren arbeitete die Künstlerin mit Fotografien als Ausgangsmaterial für ihre malerischen Bildschöpfungen, in denen sie unterschiedliche Zeitebenen zwischen Vergangenheit und Gegenwart verknüpfte. Die Ausstellung „ in between“ in der Pasingerfabrik , oder „Shanghai Feeling“ im German Centre in Shanghai und im Schloss Fußberg in Gauting sind Ihnen vielleicht noch in Erinnerung. Diese früheren Arbeiten zeigen Landschaften und Porträtcollagen, überschrieben mit hieroglyphenartigen Schriftzeichen.

Jutta Nase hatte sich bei diesen Arbeiten auf die Natur eingelassen bzw. zu den auf den Bildern dargestellten Persönlichkeiten Kontakt aufgenommen, um sich auf geistiger Ebene mit ihnen auszutauschen. Auf der Suche nach der Identität des Abgebildeten taucht die Künstlerin ein in die Vergangenheit und stellt sich zwischen Geschichte und Natur, um die teils zerrissene Verbindung wieder herzustellen.

Beuys behauptete, die einzelnen „Werke“ seien lediglich Dokument oder Spuren seiner „ Lebensakte“, und diese Spuren dienten nur dem einen Ziel, den schöpferischen Prozess nachzuzeichnen.

EIN BILDNIS ist jede Darstellung eines bestimmten Menschen, gleich ob der Darsteller ein bestimmtes Modell vor Augen hatte oder nicht. Das PORTRÄT (nach lat. protrahere, hervorziehen) wird auf das authentische Abbild der Persönlichkeit bezogen. Da aber jede bildliche Darstellung von Menschen bildnishafte Züge haben muss, ist die Abgrenzung vom anonymen oder typisierten Allgemeinbild, das überdies dem Individualporträt vorausgeht, mitunter schwierig.

Der Porträtist früherer Epochen sah hinter dem Menschen des Alltags noch ein überzeitliches, überpersönliches, eben jenes Element, aus dem sich das Tagesbild herleitet. Albrecht Dürer verstand es, die Seele eines Menschen zu malen, sagt die Wissenschaft. Ein Können, das bis zu dieser Zeit nicht gefragt war. Es geht also um die persönliche Identität des Abzubildenden, und dies ist nach Dürer ein besonderes Anliegen vieler Künstler geworden. Der Darstellende sucht die seelisch- geistige Existenz eines Individuums zu erfassen.

W. Waetzold schrieb: „Das Enface-Porträt hält den Betrachter fest, an Menschen, die im Profil porträtiert sind, kann man gleichsam vorbeischlüpfen, oder richtiger, man kommt mit ihnen in gar keinen seelischen Kontakt.“

Die Windsbraut, das Bild der Einladungskarte mit dem Arbeitstitel „Struwwelpeter“, schuf unsere Künstlerin nach einem Porträt von E. Vigée-Lebrun, die ihre Tochter Suzanne 1785 gemalt hatte. Elisabeth Louisa Vigée-Lebrun (1755–1842), neben Angelica Kauffmann und Rosalba Carriera, eine der bekanntesten Porträtmalerinnen des 18. Jahrhunderts, war als selbige so geschätzt, dass die junge Frau bald zu einem finanziellen Wohlstand kam. Wollte man sich von ihr malen lassen, musste man sich lange vorher anmelden. 662 Bildnisse sind von ihr erhalten. Sie war außerdem die Hausporträtistin von Marie Antoinette, die ihre Aufnahme in die Académie des Beaux-Arts sehr unterstützte. Somit konnte E. Vigée- Lebrun früh im Salon ausstellen.

Ein Zitat von ihr: „Ich versuchte, soweit es mir möglich war, dem Gesichtsausdruck der Damen, die ich malte, Haltung und Ausdruck zu geben, diejenigen, die keine Physiognomie hatten, malte ich träumerisch und nachlässig aufgestützt.“

Jutta Nase malt die Windsbraut mit Energie und wilden Haaren, als ob sie die Zeit Suzanne Lebruns aufzeigen wolle. Man schrieb das Jahr 1785, vier Jahre vor Ausbruch der Französischen Revolution, zu der Zeit, als Mutter Lebrun nach Italien emigrierte und es in Paris politisch tobte. Die Emotionalität dieser Figuren liegt in ihrer historisch-ästhetischen Position. Im Bild Mutter – Kind, zeichnet Jutta Nase eine liebevolle Beziehung nach. Für die Zeit ein ungewöhnlich inniges Bild. Mit weichen Konturen aneinander geschmiegt, bildet unsere Künstlerin die beiden Frauen ab, bewusst jede Niedlichkeit vermeidend , die der Entstehungszeit des Bildes auch keineswegs entsprechen würde. Jutta Nase sucht die Identität dieser starken Malerin Persönlichkeit Vigée-Lebrun aufzuzeigen, die uns noch heute rührt als Zeugin ihrer Gesellschaft, einer überlebten Gesellschaft. Es ist eine Erinnerung an die „gute alte Zeit", aber auch ein dialektisches Hinterfragen einer in unseren realen Welt nicht erreichbaren Harmonie.

„Man kann das Hören nicht hören, aber das Betrachten sehen", so Marcel Duchamp. Das Gemälde „Frau mit Blume im Haar“, nach dem „Bildnis einer Dame" von Diego Velázquez aus dem Jahr 1630 (Staatliche Museen zu Berlin) spricht den Betrachter an. Er kann in das Bild sehen und wird von der Dame zurück betrachtet. Jutta Nase gibt hier nicht die strenge Stofflichkeit in dem feinen Faltenwurf des spanischen Künstlers wider, sondern verfremdet mit einem alten Rüschenstoff als Collage den strengen Eindruck.

Velázquez (1599-1660) gelang trotz des formalen Zwangs eine greifbare Lebensnähe, er blieb aber ungeachtet seiner Italienreise und seiner Freundschaft mit Rubens unverwechselbar spanisch mit dieser besonderen Mischung von Stolz und Demut. Jutta Nase spürt dieses Maler-Modell-Verhältnis ,was auch meint Mann und Frau und ihre Beziehung zueinander. So lässt sie die Dame ganz gewitzt aus der Bildtiefe hervor schauen. Eine offene Beziehung zueinander strahlt aus den Bildern „ Große Liebe" l und II, entnommen einem Detail des Gemäldes „Jungbrunnen" von L. Cranach, 1546. Umrankt von blauen Blumen der Romantik, sehen wir ein älteres Paar. Die rosigen Wangen der gut behüteten Dame, von der Liebe neu erglühend, werden von einem freundlichen Mann betrachtet. Eine Erfahrung tiefer Empfindung, unabhängig jeden Alters. P. Klee hat den Begriff „bildnerisches Denken" geprägt. Die Voraussetzung dafür ist ein Sehen, das die Widersprüche nicht nur in Kauf nimmt, sondern sprungbereit mit ihnen umgeht.

Dies tut Jutta Nase wie auch Dorothea Therbusch, die sich selbst 1776 porträtierte und alle geltenden Schönheitsideale der Zeit einbrachte, andererseits aber ihre starke Sehschwäche durch das dicke Leseglas dokumentierte. Man beachte dieses große Handicap für eine Künstlerin, die auf ihre Augen ja ganz besonders angewiesen ist. Therbusch hat aber die Größe, sich dem Problem zu stellen, sich selbst mit dem Brillenglas zu behelfen und dies nicht zu verstecken. Jutta Nase interessiert sich für diese Künstlerin und zeichnet sie in ihrer ruhigen ausgeglichenen Art, in zarter Farbigkeit neu .Sie empfindet die künstlerische Intention als Ausdruck innerer Notwendigkeit. Warum aber nimmt Jutta Nase diese alten Gemälde und zollt Anteilnahme an erfahrenen Eindrücken anderer?

Der Philosoph Winkelmann beschreibt das Phänomen so: „Die Maler müssen sich mit der Geschichte auseinandersetzen.“ Wir sind ein Teil dieser und bauen auf sie auf. Beuys nennt das den zeichnerisch protokollierten Geschehens-Zusammenhang, das IN-EINS von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die auf diese Weise entstandenen Bilder, sagt Brigitte Hammer, gewähren schlüssellochartige Einblicke in fremdes Leben, verweigern sich jedoch dem schnellen Blick und erlauben keine Distanzierung. Sie sind verästelt und verschlüsselt, so dass sie unmittelbar auf das Gemüt des Schauenden einwirken. Dessen Erinnerungsvermögen und Empfindungsfähigkeit wird durch das Betrachten der vielschichtigen Komplexität stimuliert und seine Selbstwahrnehmung auf wohltuende Weise angeregt. Jutta Nases Porträts sind fiktiv und autobiographisch, Bewegung und Haltung sind im Ausdruck, der immer die Gegenwart bezeichnet, zusammengefasst. Aber da diese Bewegung und Haltung dem Menschen seit jeher eigen ist, ist die Gegenwart Erinnerung und Zukunft zugleich.

Ihre Porträts antworten der Hektik des Alltags gelassen, gleichzeitig aktualisiert die Künstlerin die Tradition des Porträts in dieser Ausstellung. Nun können Sie nach Erich Kästners Ausspruch die sogenannte „Augsburger Diagnose“ 1946) stellen:
1. Welches Bild halten Sie für das Beste?
2. Welches Bild besäßen Sie am liebsten?

Beuys spricht vom zeichnerisch protokollierten Geschehens-Zusammenhang, vom IN-EINS von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.