Meinrad Dufner: Bilder anschauen lernen

Bilder sind selbständige Wirklichkeiten wie ein Musikstück oder ein Gedicht. Sie sind jedoch noch verwundbarer als die beiden anderen Kunstformen. Diese erschließen sich notgedrungen erst mit der Zeit, da wenigstens das Lesen oder die Tonfolge dauert. Das Bild präsentiert sich scheinbar auf einmal, gleichzeitig und ganz. So verleitet es die Menschen zu schnellem Urteil. Sie meinen mit einem Blick gesehen zu haben. In Wahrheit braucht ein gutes Bild ebenso Zeit, kann sich ebenso erst allmählich erschließen. Und das geht so: Ich sehe ein Bild. Also wenn ich sehe, soll ich erst schauen. Schauen, was ich sehe. Das heißt ganz einfach: Ich zähle auf, was ich sehe; ein Rot, eine Linie, Grün im Hintergrund, Weiß, Durchbrüche. Ich erkenne eine Form, ein Gesicht, Augen, Augen nach innen, Mund verschwiegen oder auch Schmerz oder auch Warten. Ich sehe Blau, ich sehe Gelb, ich sehe Braun. Ich sehe alles Mögliche und zähle es mir eins ums andere auf. Meistens sehen die Menschen wenig weil sie nicht Zeit haben zum Sehen, also können sie nicht eins ums andere aufzählen, was sie sehen und damit nicht ins Bild hineinsteigen. Sie gehen nicht im Bild spazieren oder verweilen gar an einer Stelle. Gesehen und fertig – aber so sehen wir nicht. Sehen braucht wie das Lesen einer Notenpartitur seine Zeit. …

So fange ich auch an, das Bild zu interpretieren. Das heißt, ich darf eine eigene Farbenlehre entwickeln. Rot – ist nicht, was in den Büchern steht. Was ist Rot für mich? Ein Blau – was ist Blau für mich? Die verschiedensten Farben, so zähle ich mir sie auf, so erinnere ich sie in meinem Fühlen, so betaste ich sie mit meinen Gefühlen. …

Manches Mal begegnen wir Bildern, zu denen lässt sich gar nichts sagen. Sie machen uns still, sie berühren uns tief, sie lassen uns nicht los. Aber wir wissen nicht, warum, wir wissen noch lange nicht, warum. Mit solchen Bildern sollen wir umgehen, sie ins Herz stecken wie in die Brieftasche, sie herumtragen, sie immer wieder erinnern. Die Seele weiß, warum dieses Bild so wichtig ist und was es mir hersagen will. … Ein Bild will sich mir erschließen, will von sich erzählen. Nicht ich soll das Bild beurteilen, nicht ich soll sagen, wie es zu sein hat. Bilder wollen sich in mich einbilden. Deswegen bedürfen sie eines offenen Herzens. … Bilder brauchen fragende Menschen, Bilder geben Antworten. Bilder brauchen fühlende Menschen, denn in Bildern ist schon Gefühl geronnen. Mit Bildern ist es nicht anders wie mit Musik. Ich muss mich ihnen überlassen wie einer Symphonie. Die Töne kommen und gehen, sie schwingen auf und ab, die Pauke trommelt mir her, die Flöte trägt mich weg, die Geige streichelt mich sanft. All das geschieht, und ich lasse es mir gefallen und werde berührt, äußerlich im Hören, innerlich im Wahrnehmen, tief innen in einer Erkenntnis, die sich dem Wort versagt.

Damit sind wir da angekommen, wo gute Kunst immer etwas mit dem Geistlichen zu tun hat. Nämlich mit jener Wirklichkeit, die den Menschen mit Geist erfüllt, die ihn, so sagt es jedenfalls der Gläubige, über sich hinaus mit dem göttlichen Geist in Verbindung hält. Aber wir brauchen nicht gleich fromm zu werden, denn in Kunst ist immer Geist der Geschichte vorhanden, Geist der Menschen und Ungeist der Menschen.

So begegnen wir in der Kunst fortwährend der Wirklichkeit des Menschen. Begegnen wir aber der Wirklichkeit des Menschen, begegnen wir immer der ureigensten Wirklichkeit, da wir ja Mensch sind. Dieser zu begegnen, dieser immer nackter und ungeschützter innewerden, das wäre der Weg des Reifens. Daher ist es wichtig, sich mit guter Kunst zu umgeben, mit guter Kunst im Gespräch zu sein, Musik zu hören, Gedichte zu lesen, ein paar wenige Bücher haben, in denen die Seele wohnt und die bei der Seele wohnen. Und natürlich Bilder im Raum, die mich anschauen, die mir vom Geheimnis erzählen, die mich ins Geheimnis führen.

* Auszüge aus dem Text „Bilder anschauen lernen“ von Meinrad Dufner. Titel des Buches: „Schöpferisch sein“, Vier Türme Verlag, 2007

Bilder brauchen fragende Menschen, Bilder geben Antworten. Bilder brauchen fühlende Menschen, denn in Bildern ist schon Gefühl geronnen.